Newsletter Gabi Vogt Photography
Ich erinnere mich.
«In der Weihnachtszeit waren früher jeweils die Grosseltern aus Basel zu Besuch. An Heiligabend gingen wir immer in die Kirche. Damals sassen die Männer rechts, die Frauen links. Mein Grossvater war wie ich katholisch, meine Grossmutter war reformiert. Diese Kombination war damals sehr ungewöhnlich. Ich kann mich gut erinnern, wie sie sagte: ‹Der da oben ist für alle der Gleiche.›
Richi Zünd (65) ist seit Kurzem offiziell pensioniert. Das Surprise Magazin verkauft er nach wie vor an seinem Stammplatz in Zürich Wollishofen.
Ich machte eine Lehre als Automechaniker und arbeitete 26 Jahre lang bei den Verkehrsbetrieben Zürich, ehe ich wegen einer Krankheit arbeitsunfähig wurde und eine IV bekam. Die Religion ist bis heute wichtig für mich. Die katholische Kirche in Wollishofen ist noch dieselbe wie damals, nur haben sie drinnen umgebaut, sodass das Publikum in einem Halbmond rund um den Hochaltar sitzt – Männer und Frauen gemischt. Besonders mag ich den ruhigen kleinen Nebenraum mit Kapelle, wo ich ungestört mit meinen Gedanken bin.
Sonntags besuche ich regelmässig den Gottesdienst. Fast aus jeder Predigt nehme ich etwas mit, das ich fürs Leben gebrauchen kann. Auch dieses Jahr gehe ich Heiligabend in die Kirche. Ausser, wenn es mir körperlich nicht gut geht. Für diesen Fall gibt es zum Glück die Gottesdienste am TV. Am Weihnachtstag treffe ich mich dann mit der Verwandtschaft, wir essen Schüfeli und Hörnlisalat und sitzen zusammen.
Diese gute Atmosphäre schätze ich sehr. Ich freue mich auch immer, wenn nach Weihnachten mein Sohn vorbeikommt und wir Zeit zusammen verbringen. Wir schenken uns höchstens etwas Kleines, eine schöne Kerze oder so. Zuhause habe ich ja alles, was ich brauche. Ausserdem kann ich mit Geschenken ja nicht reden.»
Aufgezeichnet von Andres Eberhard
«In meiner Kindheit lebten wir nicht im Überfluss. Wir hatten aber immer genug. Das mit den Geldproblemen kam später.
Mein grösstes Weihnachtsgeschenk erhielt ich, als ich elf Jahre alt war. Vor dem Fest war ich mit meinen Eltern ins Warenhaus gegangen, um verschiedene Velos anzuschauen. Ich durfte sogar draufsitzen und sie ausprobieren. Als es dann aber so weit war, entdeckte ich kein Geschenk unter dem Baum, das so gross war wie ein Fahrrad. Ich stieg sogar hinunter in den Keller und schaute nach. Doch da war kein Velo. Nachdem alles vorbei war, fragte mich mein Vater, ob ich zufrieden sei. Ich war ehrlich und sagte: ‹Ich hätte schon gerne ein Velo bekommen.› Mein Vater entschuldigte sich, es sei finanziell nicht drin gelegen. Erst dann schickte er mich auf den Balkon, um nachzuschauen. Und da stand es, mein erstes eigenes Velo.
Peter Conrath (55) ist Surprise Stadtführer, verkauft das Strassenmagazin und betreibt einen Würstlistand bei der Schmiede Wiedikon.
Das war schon sehr speziell. Denn wenn ich sonst etwas Grösseres wollte, hiess es: ‹Mach was dafür.› Als ich mir mit vierzehn Jahren ein Töffli wünschte, ging ich auf den Bau und arbeitete für den Vater eines Schulkollegen, der Dachdecker war.
Momol, ich hatte eine glückliche Kindheit. Als Nachzügler der Familie war ich gut behütet. Meine Geschwister sind acht und sechs Jahre älter. Zu Weihnachten hörten wir jeweils ein paar Lieder von der Schallplatte, sangen gemeinsam, packten Geschenke aus und assen dann ein Fondue Bourguignonne oder Chinoise. Diese Tradition führten wir auch noch fort, als alle längst ausgezogen waren, bis zum Tod der Eltern.
Ich lebe von etwa 2000 Franken pro Monat. Viel ist das nicht, aber ich habe immer bescheiden gelebt, darum geht das. Ich habe Schulden seit einem Töffunfall in der Dominikanischen Republik im Jahr 2004. Nach einer Lehre als Koch, einigen Jahren beim Globus und bei der Securitas hatte ich mich mit Reinigungen und Umzügen selbständig gemacht. Da ich zum Zeitpunkt des Unfalls nicht versichert war, geriet ich in die Schuldenfalle.
Ich bin froh, wenn Weihnachten vorbei ist. Seit meiner Zeit als Securitas, wo ich viel in der Nacht arbeitete, bin ich es zwar gewohnt, allein zu sein. Das ist auch während der Festtage kein Problem für mich. Aber den Stress, die Hektik auf den Strassen und diese Geldmacherei in den Läden halte ich fast nicht aus. Dafür ist es für den Surprise-Verkauf eine ganz gute Zeit.
Das grösste Geschenk wurde mir sowieso schon gemacht. Bald werde ich erstmals seit vielen Jahren schuldenfrei sein. Eine gute Bekannte schenkte mir vor Kurzem nämlich 10000 Franken. Das war zwar kein Weihnachts-, sondern ein Geburtstagsgeschenk. Aber es fühlte sich an wie beides in einem.»
Aufgezeichnet von Andres Eberhard
Surprise Nr. 465
Erinnerungen aus der Kindheit sind manchmal gestochen scharf, ein anderes Mal verblichen, aber immer so etwas wie ein Abdruck des damaligen Empfindens. Man trägt sie als Erwachsener mit sich, diese Bruchstücke der Vergangenheit, die Fragmente früherer Seelenlandschaften.
Newsletter Weihnachten 2019